CIRCUS, MINSK 2009

Vorwort 

Der Wunsch, an einen der begehrtesten Orte meiner Kindheit zurückzukehren und ihn aus meiner heutigen Perspektive zu sehen, hat mich zu dieser Arbeit motiviert.

Ich bin in der Sowjetischen Republik Weißrussland geboren und aufgewachsen. In Minsk, wie in jeder anderen sowjetischen Großstadt, gab es einen Staatlichen Zirkus – ein massives Gebäude, das an Größe der Staatsoper in nichts nachstand. Zirkus war in der Sowjetunion eine ernste Sache. Es gehörte zum Pflichtprogramm meiner Mutter, mit mir in den Zirkus zu gehen. Zwei mal im Jahr gab es ein neues Programm und wie die meisten anderen Kinder habe auch ich jedes Programm mindestens einmal pro Saison gesehen.

Dazwischen war der Zirkus präsent in meiner kindlichen Erinnerung: der Duft von Zuckerwatte, in den sich der Geruch der Tiere mischt, geheimnisvolle Geräusche und Musik, die ankündigt, dass es bald genug los geht – und alle hasten zu ihren Plätzen.

In meinem Zirkusprojekt habe ich nicht versucht, meine damaligen Gefühle wieder zu finden, sondern war eher daran interessiert, zu ergründen, welche Gefühle der Zirkus heute in mir auslöst. Mit der Möglichkeit, hinter die Kulissen meiner Erinnerung zu gehen konnte ich nun auch die andere Seite des Zirkusbetriebes kennenlernen: die Menschen, die mit ihrer Arbeit die Erfahrung und Faszination Zirkus erschaffen – die Artisten.

Zu meinem großen Glück arbeiten im heutigen Staatlichen Zirkus von Minsk sehr offene, freundliche und starke Menschen, die mich an ihrem Blick auf die Zirkusrealität teilhaben ließen. Viele der Artisten kommen aus Zirkusfamilien. Sie sind sprichwörtlich im Zirkus geboren und aufgewachsen. Ihre Geschichten habe ich teilweise in kleinen Notizen festgehalten. Ich habe versucht den offenen Blick der Artisten zu zeigen – in der Hoffnung, dass man darin einen Hinweis auf die Erlebnisse und Begegnungen, die solch ein Leben prägen, finden kann. In meinen Bildern erzähle ich von Artisten, vom Zirkus und von Weißrussland: eine Reise an einen Ort meiner Kindheit. 

Malvina ist Circus-Artistin in der dritten Generation. Ihre Mutter war eine von neun Schwestern. Alle waren Hochseilartistinnen. Malvina steht, seit sie dreizehn Jahre alt ist, auf der Bühne. 
Zusammen mit Valerij hat sie einen sechsjährigen Sohn und eine 21-jährige Tochter aus erster Ehe.

Valerij war früher Turner im sowjetischen Turnkader. Nach der Karriere als Leistungssportler wurde ihm eine Lehrstelle an einer Sportuniversität angeboten, aber er hat sich für den Circus entschieden. Er bereut es bis heute nicht. Durch den Circus ist Valerij in Form geblieben. Er geht vier Mal die Woche zum Training. Valerij liebt Tennis. Sein Wunsch ist, daß sein Sohn Tennisspieler wird. Malvina ist dagegen, weil sie meint, dass man im Sport gewisse biologische Kriterien erfüllen muss: Größe, Gewicht usw.„Im Circus hast du mehr Möglichkeiten für eine gute Karriere.“

Malvina und Valerij arbeiten oft in Deutschland. Sie haben sich in Deutschland auch kennengelernt. Im Circus „FlickFlack“. Das war im Jahr 2000. Seitdem sind sie unzertrennlich. Deutsche Zuschauer mögen sie gern.

Serg kommt aus einer traditionellen Circusfamilie.
Seine Mutter arbeitet seit 35 Jahren im Circus, davon seit fünfzehn Jahren als Circusdirektorin. Conferencier zu sein ist nur zehn Prozent seiner Arbeit. Die meiste Zeit organisiert Serg das Circusleben: die Show, die Bezahlung der Angestellten, die Verträge usw. Serg sagt in einem etwas verdrehten Sprichwort: „Sei nicht als Glückspilz geboren, sondern als Sohn einer Circusdirektorin.“

Radu erzählt einen Witz:
Ein Betrunkenen im Knast: – „Wo bin ich?“ – „Du bist in einem Knast!“ – „Das weiss ich, aber in welchem Stadt?“

Radu wurde in Warashilovgrad (heute: Lugansk) geboren, einer kleinen Stadt in der Ost-Ukraine mit ca. 600 000 Einwohnern. Er hat dort die ersten drei Klassen der Grundschule beendet. Seine Kindheit drehte sich jedoch nur um den Circus: Er ist mit seinen Eltern jahrelang in einer festen Zirkusgruppe herumgereist. Da gab es eine ganze Bande von Kindern. Die Kleinen sind in jeder neuen Stadt auf eine andere Schule gegangen. Morgens haben sie einander gefragt: „Sollen wir in die Schule oder lieber ins Kino gehen?“ Meistens sind sie dann ins Kino gegangen. Radu war trotzdem immer recht gut in der Schule, so sagt er. Von diesen Kindern sind nur wenige beim Circus geblieben. Einer hat sogar Jura studiert.

Mit den Tieren geht man im Circus gut um. Jeder ist interessiert daran, dass es ihnen gut geht. Es ist einfach so: Wenn es den Tieren nicht gut geht, dann kann man nicht arbeiten! Die Tiere kommen aus einer langen Circustier-Generation. Sie sind schon im Circus geboren und kennen das Leben nicht anders. 
Einem Affen zum Beispiel muss man zeigen, wer der Chef ist. Manchmal muss man ihm das mit physischer Kraft beweisen. Denn für ihn ist es so: Wer stärker ist, der ist auch wichtiger.
Damit die Elefanten im Winter nicht frieren, kriegen sie mit Wasser verdünnten Cognac, sonst werden sie aggressiv.
Der Bär ist sehr gefährlich, weil man nie weiß, wie er im nächsten Moment reagieren wird. Man kann ihm nicht ansehen, wenn seine Aggressivität steigt. Ein Bär kann im einen Moment zärtlich sein und dich im nächsten Moment brutal verletzen. 

Als die Familie einmal in Kuwait gearbeitet hat, es war während des Ramadan, haben religiöse Fanatiker im Circus eine Bombe gelegt. Zum Glück wurde keiner verletzt, als sie detonierte. Radu war damals sechzehn Jahre alt und hatte eine Sekunde vor der Explosion ein Bügeleisen in eine Steckdose gesteckt. Im ersten Moment dachte er, dass die Explosion seine Schuld war!

„Wenn wir unseren Schmink-Raum verlassen, dann lassen wir dort all unsere Probleme zurück. Es interessiert die Zuschauer nicht, welche Sorgen wir haben. Sie haben bezahlt und wollen ihre Zeit im Circus genießen.“

Christina kommt aus einer alten Circusfamilie. Ihre Eltern waren Luftakrobaten. Sie wurde schon im Alter von 8 Jahren mit auf die Bühne genommen. Die ersten Auftritte waren mit dem „Hula-Hoop“ Reifen. Sie ist mit ihren Eltern durch die ganze UdSSR gereist. Immer eine neue Schule, nie zu Hause gewesen. Normalerweise verbrachten sie sechs Monate in einer Stadt. Manchmal auch nur zwei. 

Als sie Slava kennenlernte, war er zwanzig Jahre alt, Student und hat nebenbei in einer Fabrik gearbeitet. Nach einer kritischen Situation in seinem beruflichem Leben ist Slava zum Circus übergewechselt. Christinas Vater hat ihm alles beigebracht. Sechs Stunden am Tag hat Slava geübt. Angefangen hatte er als Circushelfer: Um sechs Uhr aufstehen, langes Üben, danach arbeiten. Von den ersten Übungen bis zu seinem ersten Auftritt verging ein ganzes Jahr. Seine erste Nummer war „Ekvilibr“ – das bedeutet “Balance auf den Rollen”. Das war 2001. Sohn Danila wurde 2004 geboren. Die Eltern wollen, dass Danila mehr lernt und später vielleicht mal Eishockeyspieler oder Musiker wird.

„Du kannst alles im Circus lernen, wenn du den Willen hast und physisch in Form bist, und vor allem wenn du das nötige Geld besitzt: Niemand wird dir einfach so etwas beibringen!Man kann entweder Tricks kaufen oder selber welche erfinden.Willen und Kraft – das ist Circus. Wenn du etwas erreichst, dass macht dich scharf, noch mehr zu arbeiten und noch mehr zu erreichen, denn du siehst, dass du es kannst. Wenn du eine Verletzung bekommst und alles wehtut, willst du gar nichts mehr. Aber dann denkst du: Wozu habe ich denn all diese Jahre gearbeitet? du reißt dich zusammen und fängst wieder an!“

Seit 30 Jahren arbeitet sie bereits im Circus: Früher beim Ballett, dann in der Luftakrobatik. Ihre Tochter arbeitet jetzt auch mit. Angefangen hat sie im Moskauer Circus. Als Kind hat sie viel Gymnastik gemacht. Damals sind Leute in ihr Gymnastikstudio gekommen und haben Mädchen für die Circusgymnastik gesucht. So hat alles angefangen.

Ihr Ehemann ist Fakir und Yogi. Er dressiert auch Schlangen. 

„Der Circus ist eine Berufung. Viele verlassen den Circus. Ich wechsele nur das Genre. Ich kann nicht ohne den Circus“. Sie liebt es, mit Tieren zu kommunizieren und daraus eine Show für die Zuschauer zu machen. Der Circus hält sie in Form. Ihre Tochter hat gerade die Tanzausbildung beendet. Sie wollen gemeinsam eine neue Nummer mit Menschen und Vögeln in der Luft kreieren. Ihnen gehören 20 Tauben. Svetlana kennt jede von ihnen. Jeder Vogel hat einen eigenen Namen: Schweps, Chubchik, Wudik, Graf…